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Tonträger

Mehr oder weniger absichtlich fiel mir Sonntagnacht der Deckel der Mülltonne aus der Hand. Er knallte auf den restlos gefüllten Plastik-Korpus, scheppernd und ungedämpft.
Erleichtert blickte ich mich um, doch es rührte sich nichts hinter den nachbarlichen Fenstern. Ich hatte es geschafft. Diese Woche sollten die Schallplatten von Karajan aus meinem Leben verschwinden. Endgültig.
Ohne Rücksicht zog ich die Mülltonne mit quietschenden Rädern zur Straße und ließ sie gegen die anderen prallen. Noch war die Entsorgung meiner Schallplattensammlung nicht vollzogen. Ich musste warten und hoffen, dass nicht wieder Einer in der Nacht herumschleicht und das herauskramt, was ich einen halben Tag herausgesucht, abgespielt und abtransportiert. hatte.

Zuletzt hatte ich es mit der Sammlung von George Moustaki versucht: ich bedeckte die Platten in der Mülltonne mit dem wöchentlichen Zeitungsstapel und aus unerfindlichen Gründen fanden sich Stunden später die Platten wieder in meinem Keller an. Bis zum Morgen drehte sich der Schallplattenspieler und Moustaki sang „Ma Solitude“.

Dabei war es einfach an der Zeit, sich zu befreien. Von Umzug zu Umzug hatten mich meine Tonträger treu begleitet. Die Schallplatten mussten in extra stabilen Bücherkisten verstaut werden und wegen des Gewichts stopfte ich zwischen ihnen leere Digitalkamera- Handy- und Lampenschachteln.
Eine Schallplatte wiegt mit 30 Minuten Musik zwar nur 120 g, zehn schon 1,2 kg, ohne die Papphüllen. Eine Tonbandkassette wiegt dagegen nur 35 g, eine CD sogar nur 15 g, zugegeben, die Tonträger werden immer leichter. Ein einzelnes Lied wiegt fast nichts mehr, und eine ganz Note, ein „Ton“ wird quasi zum Schwebstoff.
Aber die Gesamtheit meiner Sammlung wiegt, und das Drum-her-rum mit den Fragen kostet Zeit.
Wo hatte ich die Platte gekauft und warum? War es das Cover, die Titel, die Texte die mich zum Kauf reizten? In welchen Situationen hatte ich welche Stücke gehört? In welchem Takt hatte ich über ihre Haare gestrichen? Mit welchen Liedern änderte sich mein Leben?

Bei Genesis hatte ich jede Platte gekauft, die Platte von Bulat Okoudjava nach einem russischen Sprachkurs und die Sammlung von Beethoven mit Karajan war von meinem Vater übrig geblieben.

Es war einfach alles dabei, von Caruso bis Keith Jarrett.
Und neben der Schrankwand mit den Schallplatten gab es auch noch die anderen Mediengenerationen: die Tonband-Kassetten in den Kartons, die Schubladen voll mit den CDs aus den Grabbelkisten der Geschäftsaufgaben und die bei Ebay ersteigerten MiniDisks, handschriftlich tituliert mit „Black Energy“ oder „Crossing all over“.

Andere stapeln Jahrzehnte lang ihre Fotos. Beim Sortieren verlieren sie sich dann in Fragen nach den Urlaubsquartieren mit der Ex-Family oder im Rekapitulieren der Menüfolge bei den Weihnachtsfotos.

Die wenigsten Tonbänder hatte ich bespielt gekauft. Ich schnitt zahlreiche Chopinkonzerte mit, aber auch Live-Übertragungen von BAP oder besprach sie mit tagebuchartigen Gedankensplittern schopenhauerscher Dimensionen.

Die meisten Kassetten hatten Generationen von Autoradios überlebt, erfolgreich die wüstenklimatischen Einflüsse in Beifahrertürablagen überstanden und waren seit einigen Jahren wohltemperiert im Keller eingelagert.

Ich hatte mir nicht vorgenommen, sie alle zu hören, zumal sie sich nach Sekunden ihrer Reanimierung verweigerten und am Tonkopf festklebten: Bandsalat.

Aber es war doch an der Zeit nach einem persönlichen Klassiker zu suchen, nach einer Melodie, die ich immer wieder hören wollte und konnte, in und auswendig verstand und doch etwas Neues heraushören konnte.
Die Technik brachte mich auf eine Vision: alle wichtigen Musikstücke auf eine DVD zu brennen, und mich gleichzeitig vom Ballast der schweren Tonträger zu befreien, so wie einmal Atlas die Welt abwerfen wollte.

Vielleicht wollte ich aber auch nur eine Melodie finden, eine in meiner Tonlage, nicht irgendeinen esoterischen Sphärenton, sondern ein Lied einfach nur für mich.

Es half nichts, die Umzugskartons, die bücherschweren Kisten mit den Schallplatten mussten sortiert, angespielt und einzelne Lieder überspielt werden.
Aber die auf die Schallplatten gepressten Töne waren weder leicht noch flüchtig.
Herman Hesse hatte gelogen: „die Töne der Musik, ...lassen sich nicht halten und bannen, sie schwinden und rinnen von dannen“... von wegen.

Ich konnte mich immer erinnern. Wann und wo ich die Schallplatten gekauft hatte, und wann und mit wem ich sie gehört. Aber ich wollte es nicht mehr.

Diese Woche sollte Beethoven verbannt werden, zumindest in der Karajanfassung. Es waren erstaunlich wenig Kratzer auf den ersten Sinfonien. Und die neunte. Hatte ich sie nicht mal mit Peter gehört? Abends, als wir allein in der Wohnung waren, ich die neue Stereoanlage demonstrieren wollte, vor allem die Bässe!!!
Dann trafen wir mit unwiderstehlichen Götterfunken in den Augen vor dem Kino Siggi und Ines, brachten sie spät nach Hause, und waren uns unerwartet einig, diesen Abend, diese Nacht.

Vorbei. Aussortiert. Plastik zu Plastik, Papier zu Papier, dann der Weg zur Tonne, und nur eine Sekunde, bis der Deckel der Mülltonne zufällt.
Ich werde die Tür abschließen, von innen, den Schlüssel verstecken, dass ich mir sicher sein kann, dass sich der herandröhnende Müllwagen all der Stoffe ungesehen und ungehört annimmt, und dass sich im Keller nicht wieder der Plattenspieler dreht, mit der „Ode an die Freude“.

Frank Lähndorff